WENN EINE FEHLGEBURT ZUM VERBRECHEN WIRD

ABTREIBUNGSVERBOT IN EL SALVADOR

 

von Livia Hecht

Weltweit ist das Thema Abtreibung heftig umstritten. Vor allem in Lateinamerika zeigt sich, welche Auswirkungen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zur Folge haben kann. Seit Jahren kämpfen dort feministische Bewegungen verstärkt für die Reformierung der Rechtslage – in Argentinien und Chile schrittweise mit Erfolg. Anders jedoch in El Salvador.

In dem zentralamerikanischen Land lässt die Reform noch auf sich warten.

 

 Im Juli 2022 wird eine Frau in El Salvador wegen schwerer Tötung zu 50 Jahren Haft im Gefängnis verurteilt – die Höchststrafe. Der Grund: 2020 brachte die damals 19-Jährige in einer Latrine ein Kind zur Welt, das wenige Stunden später starb. Die aus ärmlichen Verhältnissen stammende junge Frau musste in einem Krankenhaus versorgt werden, nach Angaben ihrer Verteidigung hatte sie eine Fehlgeburt erlitten. Für sie selbst kam der Zeitpunkt der Entbindung unerwartet. Dennoch wurde sie schuldig gesprochen, denn Abtreibung und Verlust des Kindes wird in El Salvador in allen Fällen verurteilt und kriminalisiert. Auch Frauen,

die ungewollt ihr Baby verlieren, müssen oft mit Strafen rechnen.

 

ABSOLUTES ABTREIBUNGSVERBOT

Nun wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Höchststrafe verhängt. Das Gericht begründete das Urteil unter anderem damit, dass die Frau dem Neugeborenen, trotz ihrer Pflicht als Mutter, keinen Schutz geboten und damit das Kind

wissentlich umgebracht habe. Doch vor allem in ländlichen und ärmeren Regionen, in denen keine schnelle medizinische Versorgung gewährleistet ist, stellen gynäkologische Notfälle oder Fehlgeburten ein hohes Risiko für die Frau und das Kind dar. Die geschlechtsspezifische Diskriminierung spielt also auch bei juristischen Entscheidungen eine schwerwiegende Rolle.

¡Nos faltan las 17! - zu deutsch: Uns fehlen die 17! - mit diesem Ausruf demonstriert ein feministisches Kollektiv immer wieder in der Hauptstadt San Salvador für die Freilassung von 17 inhaftierten Frauen, die wegen einer vermeintlichen Abtreibung verurteilt wurden. In El Salvador gelten die schärfsten Abtreibungsgesetze überhaupt. Wenn ein Schwangerschaftsabbruch mit Mord oder Totschlag gleichgesetzt wird, folgt für die betroffene Frau eine lange Haftstrafe. In den Frauengefängnissen El Salvadors ist die Lage prekär. Bis zu 40 Insassinnen werden in einer Zelle zusammen untergebracht, die medizinische Versorgung ist schlecht und es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Einige der Inhaftierten haben auch ihre Kinder dabei, die unter den Umständen besonders leiden. Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung standen in den Jahren 2000 bis 2019 181 Frauen unter Anklage, die meisten von ihnen waren zum Zeitpunkt der Verhandlung im Alter zwischen 18 und 25 Jahren.

Die Aktivistin Morena Herrera von der Colectiva Feminista para el Desarrollo Local setzt sich für Frauenrechte ein. Das absolute Abtreibungsverbot werde ihrer Meinung nach in einer zutiefst patriarchal geprägten Gesellschaft mit dem traditionellen Rollenbild begründet, laut dem eine Frau Mutter zu sein hat. Mit dieser Haltung werde Abtreibung nicht nur als Verbrechen eingestuft, sondern stelle in der praktischen Umsetzung auch das Gebot in Frage, dass ausschließlich für Mütter eine Daseinsberechtigung besteht. Herreras Ziel ist es, diese Ideologie zu brechen und für die Entkriminalisierung der Abtreibung zu kämpfen. 

 

"Mural aborto": Die Forderung lautet: Abtreibung - sicher und legal. @Pepa García
"Mural aborto": Die Forderung lautet: Abtreibung - sicher und legal. @Pepa García

 

HINTERGRÜNDE ZUR GESETZESLAGE

El Salvador ist eines der Länder Lateinamerikas, in denen Abtreibung per Gesetz verboten ist, egal um welche Umstände es sich handelt. Auch Fehl- oder Totgeburten werden als schweres Verbrechen eingestuft, wenn die Hintergründe nicht klar sind. Die harte Gesetzeslage gilt seit 25 Jahren. 1997 wurde das Strafgesetzbuch reformiert. Im Anschluss an die Vereinbarungen zum Friedensabkommen von 1992 wurden auch die Abtreibungsgesetze neu diskutiert und unter Einfluss der katholischen Kirche verschärft. Seitdem ist Abtreibung in allen Fällen strafbar, auch wenn es sich um Kinder handelt oder

die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung ist. In fünf Gesetzesartikeln wird beschrieben, welches Strafmaß die jeweiligen Akteur:innen erhalten: Dabei handelt es sich um bis zu acht Jahren Haft. Wird zusätzlich der Mordparagraf angewandt, kann eine Gefängnisstrafe von bis zu 50 Jahren ver-

hängt werden. Das Kranken- und Pflegepersonal ist verpflichtet, jeden Verdacht auf Abtreibung zu melden. Es kommt häufig vor, dass Frauen in den Krankenhäusern zunächst versorgt und anschließend direkt verhaftet werden.

 

Bis zur Reform des Strafgesetzes war ein Schwangerschaftsabbruch nach Vergewaltigung oder Zwangsprostitution, bei Gesundheitsrisiken für die Schwangere oder bei schwerer Missbildung des Fötus erlaubt. Doch bis heute zeigt sich, dass El

Salvador ein sehr konservatives Land ist: etwa die Hälfte der Bevölkerung ist katholisch, etwas mehr als ein Drittel evangelikal. Die katholische Kirche und evangelikale Fundamentalist:innen haben einen großen Einfluss auf die Politik. Das Parlament besteht aus Anhänger:innen der Lebensschutz-Bewegung und die Anti-Abtreibungslobby selbst wird gestützt durch den amtierenden Präsidenten Nayib Bukele. Er bezeichnet sich als liberalen Reformer, zeigt sich aber in der Frauenpolitik erzkonservativ.

 

Weltweit gehen Frauen für mehr Gerechtigkeit auf die Straße. @Adolfo Lujan
Weltweit gehen Frauen für mehr Gerechtigkeit auf die Straße. @Adolfo Lujan

 

FALL VOR DEM INTERAMERIKANISCHEN GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE

Im Gesetzestext und bei Verurteilungen wird allgemein von aborto, also Abtreibung, gesprochen. Es wird nicht zwischen gezieltem Schwangerschaftsabbruch und einer Fehl- oder Totgeburt in Folge von natürlichen Ursachen unterschieden. Kommt der Fall vor Gericht, wird meist ohne gründliche Nachforschung das Urteil gesprochen. So war es auch im Fall „Manuela“, dessen Aufarbeitung internationale Aufmerksamkeit erzielte. Die damals 31-jährige Manuela war im Jahr 2008 in ein Krankenhaus eingeliefert und dort von einer Ärztin angezeigt worden, da sie Anzeichen einer Entbindung aufwies. Das Kind wurde von der Polizei tot in einer Klärgrube gefunden und Manuela kurz darauf mit dem Vorwurf der schweren Tötung (homicidio agravado) festgenommen. Ihre Haftstrafe betrug 30 Jahre. Nach zwei Jahren starb Manuela im Gefängnis an einer lymphatischen  Krebserkrankung. Ende letzten Jahres hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) den Staat El Salvador schuldig gesprochen und verantwortlich gemacht für die Verletzung der persönlichen Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz der Angeklagten im Fall Manuela. Die salvadorianische Regierung wurde unter anderem dazu aufgefordert, ein öffentliches Bekenntnis zur internationalen Verantwortung abzulegen sowie ein Handlungsprotokoll zur Versorgung bei gynäkologischen Notfällen von Frauen zu entwickeln.

Für das feministische Kollektiv Colectiva Feminista para el Desarrollo Local in der Hauptstadt San Salvador ist dies ein wichtiger Schritt in Richtung Gerechtigkeit. Das Urteil des IAGMR hat Aufmerksamkeit für die problematische Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen generiert, nicht nur in El Salvador, sondern auch in anderen Staaten Lateinamerikas.

 

DEBATTE ÜBER LIBERALISIERUNG DES GESETZES

Diskussionen über eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes bestehen schon seit einigen Jahren. Im Oktober 2016 gab es einen Reformvorschlag der linksgerichteten FMLN-Abgeordneten Lorena Peña, die für die Straffreiheit in vier Ausnahmefällen plädierte: Gefahr für das Leben der Mutter, Schwangerschaft in Folge einer Vergewaltigung oder Zwangsprostitution, Fötus nach der Geburt nicht überlebensfähig, sowie bei schwangeren Kindern. Es folgte die Kolumne einer Dokumentarfilmerin und Journalistin Marcela Zamora mit dem Titel „Ich habe abgetrieben“, die eine Welle der Empörung, aber auch des Nachdenkens und Zweifels an der Gesetzeslage anregte.

Im August 2017 lagen bereits zwei Reformanträge vor. Diese wurden aber abgelehnt, genauso wie zuletzt der Antrag eines feministischen Kollektivs im Oktober 2021. Der parlamentarische Durchbruch lässt noch immer auf sich warten. Präsident Bukele

und seine Partei Nuevas Ideas zeigen bisher keine großen Fortschritte in Richtung einer Gesetzesreform. Dabei steigt der nationale und internationale Druck. Anhaltende Proteste und die Forderung auf Selbstbestimmungsrecht für Frauen lassen in El

Salvador nicht nach. Außerdem gibt es einen weiteren Fall, genannt „Beatriz“, der gerade vor dem Interamerikanischen Gerichtshof behandelt wird. Es ist eine Frage der Zeit, bis auch hier eine Entscheidung gefällt wird, welche die obersten Politiker:innen zum Handeln zwingt. Die Hoffnung bleibt, dass die Frauen, die zu Unrecht viele Jahre im Gefängnis verbringen müssen, bald in Freiheit kommen. Erst Ende letzten Jahres wurden drei Frauen freigesprochen und vorzeitig aus der Haft entlassen.

 

Dennoch heißt es weiterhin: Nos faltan las 17 y más. Eine konkrete Änderung des Gesetzes ist zwar noch nicht in Sicht, aber die Stimme der Frauen wird immer lauter.

 


Livia Hecht ist Redakteurin bei matices.